Dienstag, 21. Oktober 2008

Sie - Endfassung

Sie

Radeln. Sie bezeichnete es eigentlich nie mit diesem, etwas aus der Mode gekommenen Begriff. Für sie war es in der Tat viel mehr als nur das. Es war wie eine eigene Welt und so versuchte sie so viel Zeit wie nur möglich in dieser Welt zu verbringen. Kein Weg war zu lang, kein Wetter zu schlecht, kein Verkehr zu dicht, keine Zeit zu knapp. Fürs Fahrrad fahren hatte sie immer Zeit, liebte sie es doch auch, seit sie es mit 4 Jahren von einem der größeren Nachbarsjungen auf einem viel zu großen Rad beigebracht bekommen hatte.
Ebenso wie das fahren, liebte sie ihr Rad. Ein älteres Modell mit einer dieser großen Bremsbügel am Lenker, die es gab bevor die neumodischeren Bremsen auf den Markt kamen. Sie hatte das Rad selbst wieder hergerichtet, nachdem sie es –zu ihrer Verwunderung – voll funktionstüchtig auf einem kleinen Schrottplatz gefunden hatte. Sie hatte es in Marineblau lackiert und mit weißer Farbe ein dezentes Blumenmuster aufgemalt. Den eigentlich Begriff dafür, „florales Muster“, konnte sie noch nie leiden. Sie konnte auch die Leute nicht leiden, die versuchten sich mit Hilfe solcher Begriffe als wortgewandte Menschen darzustellen. Sie hatte nie den Eindruck, dass eine Alltagssprache, die von Fremdwörtern durchsetzt ist, einen guten Eindruck macht. Viel sympathischer ist es doch Begriffe wie „Blumenmuster“ zu benutzen, die einem zugleich ein viel besseres Bild davon verschaffen, worüber eigentlich geredet wird.
Sie liebte das Fahrrad fahren und ihr Rad, sie wollte nie wieder ein anderes Fahrrad haben. So kümmerte sie sich mit außerordentlicher Sorgfalt darum, dass mit dem Rad alles in Ordnung war. Und manchmal, so hatte sie den Eindruck, gab das Fahrrad ihr etwas von der Liebe zurück, die sie ihm entgegenbrachte. Zum Beispiel wenn man beim Fahren in den Himmel schaut, um so für eine kurze Zeit das Gefühl zu bekommen, man würde fliegen. Auch liebt sie es, wenn die ersten Regentropfen eines warmen Sommerregens auf ihrer Haut und Kleidung auftreffen, während sie fährt. Wenn sie dann irgendwann von oben bis unten durchnässt ist, lässt sie sich oft kurz ein kleines Stück freihändig rollen (auch wenn sie der Meinung ist, dass freihändig fahren was für Angeber ist), streckt die Arme aus und genießt das Gefühl wie der Regen über ihr Gesicht läuft und wie sie die Straße nahezu für sich allein hat, weil die Menschen sich bei Regen sofort in ihre Häuser verziehen. Was sie übrigens noch nie verstehen konnte. Ihr allerliebstes Gefühl ist es allerdings, wenn sie auf dem Weg zum Obst- und Gemüsehändler die schmale, abschüssige Kopfsteinpflasterstraße hinunterfährt und die Unebenheiten der Steine erst ihre Hände, dann ihre Arme, ihr Schultern und schließlich ihren ganzen Körper vibrieren lassen. Sie liebt dieses Gefühl so sehr, dass es ihr neben einem breiten Lächeln manchmal sogar ein leises Kichern entlockt, welches dazu führt, dass sie bei ihren Fahrten durch die Stadt von Zeit zu Zeit von den Blicken verwunderter Passanten behaftet ist.
Und so war es auch an diesem Tag.
Nachdem sie morgens in aller früh wachgeworden war, tat sie das was sie immer machte, wenn sie derartig früh aufstand. Sie ging barfuß die uralte Holztreppe im Flur des alten Hauses hinauf, welches sie bewohnte. Es war ein großer Altbau, dessen letzte Sanierung schon einige Jahre zurücklag und somit vor allem die hellblaue Farbe der Fassade schon zu blättern begann. Doch genau das machte den Charme dieses alten Bauwerks aus. Im Gegensatz zur Fassade schien die Treppe im Haus nie saniert worden zu sein. Es knarzte und ächzte, als die Treppe hinaufstieg und obwohl sie wusste, dass es nichts brachte, schlich sie auf Zehenspitzen dahin und versuchte so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Nur so gelang es ihr nämlich auf bestmöglichste Weise die morgendlichen Geräusche innerhalb und außerhalb des Hauses aufzunehmen.
Besonders die Sonntage gefielen ihr, denn oftmals war außer dem Zwitschern der Vögel und dem schnarchen des älteren Herren in der 3. Etage nicht viel zu hören im Hausflur.
Doch es war Montag, der ältere Herr war schon auf den Beinen und just in dem Moment, als sie seine Tür passierte, wurde die Klospülung betätigt und sie hörte wie der Mann laut rülpsend durch seinen Flur schlurfte. Sie musste sich ein lautes Lachen verkneifen und rannte schnell die Treppe hoch zu der kleinen Holztür, die aufs Dach hinausführt. Außer ihr verschlug es hier eigentlich nie jemanden hin, was sie zum einen erfreute und zum andern aber auch traurig machte. Zwar war es ihr Reich, hier oben auf den Dächern der Stadt und sie liebte es in der Stille des Morgens zu beobachten, wie langsam die Sonne aufging und die Stadt zum Leben erwachte. Jedoch fand sie es schade, dass sie diesen Augenblick immer allein erlebte. Oftmals fragte sie sich: Was nützt einem das Paradies, wenn man es mit niemandem teilen kann? Auch fragte sie sich oft, wie viele Menschen außer ihr diesen Sonnenaufgang betrachteten und dabei ähnliche Gedanken hegten. Sie hatte sich nie einsam oder verlassen gefühlt, ganz im Gegenteil, jedoch wollte sie diesen Augenblick manchmal mit anderen teilen.
Es hatte geregnet und das Dach war übersät mit kleinen, flachen Pfützen. Die Luft roch nach Regen und es schien als hätte das Wasser sie saubergewaschen. Die vergangene Nacht war kalt und sie zog die frische Luft, die sich ihrer Meinung nach ausnahmsweise mal dieses Prädikat verdient hatte, in großen Zügen ein und lauschte dabei mit geschlossenen Augen den Geräuschen der Stadt. Da waren verschiedene Vogelstimmen, die zusammen eine Art einzigartige Melodie ergaben. Sie lauschte dieser Melodie, die von einem Hundebellen unterbrochen wurde, welches gefolgt wurde durch mehrere zugeschlagene Fenster. Ein einzelnes Auto startete den Motor unten auf der Straße und fuhr los. Anscheinend gab es Streit in der Wohnung direkt unter dem Dach, denn eine Frau schrie lauthals irgendwelche Worte, die aus dem geöffneten Fenster drangen.
Das alles schien die Vögel nicht zu stören, sie summten weiter ihre einzigartige Melodie. Das waren diese Momente, in denen ihre Gefühle überhand über sie gewannen. Plötzlich hatte sie das unbändige Verlangen danach zu springen. Sie holte aus den Knien Schwung, sprang mit aller Kraft in Luft und landete mit beiden Füßen in einer Pfütze. Das eiskalte Wasser spritze zu allen Seiten und an ihre Beine. Sie blieb in der Pfütze stehen, schloss die Augen, versuchte sich vollkommen auf den Augenblick zu konzentrieren, es lief ihr ein Schauder über den Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Es fühlte sich wahrhaftig so an, als würde ihr Grinsen von einem Ohr bis zum anderen reichen.
Nach einigen Minuten befand sie diesen morgendlichen Ausflug für einen der schönsten, den sie je erlebt hatte und erinnerte sich an ein Sprichwort, welches frei übersetzt soviel sagt wie, dass man an solch einem Augenblick höchster Freude lieber aufhören soll mit dem, was man tut, um sich das Gefühl, welches gerade in einem vorgeht aufzubewahren, es niemals zu vergessen und sich für immer daran erinnern zu können. Sie hatte mit der Zeit viele solcher Erinnerungen gesammelt. Diese Erinnerungen führten sie durch alle Jahreszeiten, barfuß im Schnee, im Regen, bei Wind, in der prallen Sonne, mal herrschte Stille, mal war es laut.
„Du bist nicht aus Zucker“ hatte ihre Mutter schon zu ihr gesagt, als sie noch ein Kind war. Und so war es auch, egal was sie bei ihrem allmorgendlichen Blick aus dem Fenster sah, nichts konnte ihr die Lust verderben aufs Dach zu steigen und auf ihre Weise in den Tag zu gehen.

Der heutige Tag erstrahlte in seinem besten Licht, das freundliche Sonnenlicht schien der ganzen Umgebung einen besonderen Hauch von Lebhaftigkeit zu verleihen. Ihre Küche war in warmes Licht getaucht, während sie aus dem Fenster blickte und die Vögel vor ihrem Fenster beobachtete. Es waren jene gurrende Tauben, die sich zu ihrer Verwunderung immer genau zur Morgenzeit an ihrem Haus einfanden. Sie vermutete, dass sie jemand im Haus fütterte oder ähnliches, jedoch hatte sie es bis heute nicht rausfinden können. Sie nahm es aber als gegeben an und freute sich jeden Morgen die Tauben zu beobachten, wie sie kurz auf ihrem oder dem Sims eines gegenüberliegenden Hauses landeten, sich darüber bewusst wurden, dass ihre Nahrung woanders zu finden war und wieder weg flogen.
Die anderen Vögel, ihr eigenes kleines Morgenorchester, wie sie sie manchmal nannte, waren auch noch da. Sie saßen in einem der Baumwipfel, die sie von ihrem Fenster aus sehen konnte.
Ihre Wohnung befand in genau solche einer Höhe, dass sie exakt über die Kronen der Bäume gucken konnte und die Vögel genau in ihrem Blickfeld waren.
Im Herbst war dieses Küchenfenster einer ihrer liebsten Plätze. Mit den Beinen an die alte Heizung gelehnt, beobachte sie die sich im Wind wiegenden Blätter der Bäume, die in eine gelb-orange Farbenwelt getaucht waren und einen herrlichen Kontrast zu dem meist tristen Wetter boten. Trist war meistens gar kein Ausdruck für die Unwetter, die über die Stadt zogen. Jedes Blatt der Bäume schien einen ganz eigenen Kampf gegen den starken Wind zu führen. Es wirkte als würden sie gegen einen Sog ankämpfen, der sie von dem Schutz bietenden Baum in die Weiten des Unwetters ziehen wollte.
Gelang es einem Blatt mal nicht mehr sich festzuhalten, wurde es rasch von dem niederprasselnden Regen durchnässt und fiel den weiten Weg in Richtung Boden, wo es dann liegen blieb, um von der Straßenreinigung beseitigt zu werden. Doch nicht allen Blättern wiederfuhr dieses Schicksal. Es gab ein Buch mit leeren Seiten in ihrem Bücherregal, in dem sie besondere Blätter, die ihr bei Spaziergängen fand, trocknete und Aufbewahrte. Vielleicht so dachte sie sich, würden die Bäume vor ihrer Türe eines Tages nicht mehr existieren und so hätte man wenigstens die goldgelben Herbstblätter als Erinnerung. Vielleicht würde sie eines Tages aber auch in einem anderen Land wohnen und könnte ihr Buch mitnehmen, um den Menschen dort zu zeigen, wie die Herbstblätter in ihrem Land aussehen. Vielleicht würden diese Menschen gar keine Blätter kennen, aber das konnte sie sich nicht vorstellen, denn so schöne Herbstblätter sollte jeder schon mal gesehen haben.
Das Buch war schon sehr aufgequollen, denn der Regen war an manchen Tagen ganz besonders stark und die Blätter umso nasser. So war es natürlich auch logisch, dass nur die wenigstens Regentropfen in der Luft auf ein Blatt trafen. Viele schlugen auf der Straße, auf Autos, auf Regenschirmen oder den Dächern der Häuser auf. Einige schlugen auch gegen das Küchenfenster vor dem sie an solchen Tagen immer stand. Sie liebte das gleichmäßige Geräusch des auftreffenden Regens und das Bild welches die vom Wind verwehten Regentropfen ergaben. Mit dem Finger verfolgte sie einige Regentropfen auf ihrer Scheibe, die ihr ins Auge fielen, sie folgte ihrer Spur und versuchte jede Wegänderung nachzufahren. Das machte sie so lange, bis die Tropfen ganz unten am Fensterrahmen angekommen waren, wo sie sich in einem winzigen Bach sammelten und die Fensterbank hinunterflossen.
Manchmal versuchte sie sich vorzustellen, wie der Weg eines Regentropfens auf dem Weg von seiner Wolke zum Erdboden wohl aussah. Es wäre sicherlich ein toller Flug, jedoch würde sich die Aussicht wohl in Grenzen halten.
Am heutigen Tag war an Regen jedoch nicht im Entferntesten zu denken. Spontan wünschte sie einem Regentropfen mal einen Fall bei diesem Wetter, die Aussicht für ihn wäre sicherlich bemerkenswert. Solch bemerkenswerte Aussichten hätten wohl sonst nur Piloten, Vögel und Fallschirmspringer.

Nach dem Frühstück schnappte sie sich den Weidenkorb, den sie von einem Korbmacher für ihren Gepäckträger anfertigen lassen hatte, band sich ein Tuch in ihr schwarzes Haar, zog ein paar leichte Leinenschuhe an und trat vor die Tür. Im Treppenhaus begegnete sie der Putzfrau, die nie zurückgrüßte. Was jedoch kein Grund war ihr nicht ein fröhliches "Guten Morgen" zuzurufen, während sie mit federndem Schritt die Treppe hinunter schritt.
Sie holte ihr Fahrrad aus dem kleinen Schuppen im Hof des Hauses, befestigte den Korb auf dem Gepäckträger, schwang sich auf den Sattel und fuhr los. Der freundliche alte Mann, der sich in seiner Freizeit um den Garten des Nachbarhauses kümmerte, hob den Kopf als er die Tür des Schuppens hörte und winkte ihr zu. Sie ließ die Klingel an ihrem Lenker ertönen und winkte mit einem breiten Grinsen zurück, so wie sie es immer tat.
Die zwar warme, aber nicht heiße Luft an diesem Montagmorgen, war eine Wohltat auf der Haut. Es war, als würde sie ihr Haar vor Freude lachen hören, weil es vom Fahrtwind und der leichte Brise, die ihr entgegenschlug, gepackt und durchgeschüttelt wurde. Es schien mit dem Tuch zu tanzen, welches sie hinein gebunden hatte. Durch ihre luftige Kleidung gelang es dem Wind ihren gesamten Körper zu umfahren. Dies war einer dieser Momente, für das sie das Radfahren so sehr liebte. Ihr im Wind tanzendes Haar und der vom Fahrtwind umschlossene Körper brachten sie dazu laut loszulachen und lösten ein wunderschönes Kribbeln in ihrem Bauch aus.
Das in ihrem Körper freigesetzte Adrenalin, verleitete sie dazu fester in die Pedale treten und ihr Haar noch wilder tanzen zu lassen. Zwar legte sie so die Strecke schneller zurück, doch das war ihr egal. Sie genoss einfach nur den Moment.
Sie schaltete ihren Kopf aus und das letzte was sie an diesem Morgen dachte war: „Das Leben ist wundervoll“.
Und so fuhr sie einem weiteren ungewissen, aber jetzt schon wunderschönen Tag entgegen.
Sie.